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10321 Die klinische Bewertung: Grundlagen zum Verständnis

Dieser Beitrag beschreibt die Aufgabe der klinischen Bewertung, die historische Entwicklung und der aktuelle Stand der Regulierung in Europa. Weiter geht es um Begriffe, Dokumente, Akteure, die klinische Prüfung sowie um Prozesse und Qualitätssicherung.
Dieser Beitrag ist der erste Teil von dreien, in denen ein Weg aufgezeigt wird, die klinische Bewertung von der Produktidee beginnend vorzubereiten und in den Entwicklungsprozess einzubinden. Damit können Sie
– sich Doppelarbeit ersparenLücken und Inkonsistenzen zwischen den Ergebnissen von Risikomanagement und klinischer Bewertung vermeidenProjektrisiken durch fehlende klinische Daten vermeidenungeplante klinische Prüfungen vermeiden– den Stand der Technik und die nicht-klinische Verifikation nutzen.
Teil 1 behandelt die Grundlagen und gibt Ihnen eine Argumentationshilfe gegenüber der Benannten Stelle (im Fall unterschiedlicher Sichtweisen).
von:

1 Vorwort

Jede Person kann Regeln ohne Begründung folgen. Von ihnen abzuweichen, benötigt eine gute Argumentation.[1]. Dies gilt auch für die Regeln des Medizinprodukterechts.
Hersteller von Medizinprodukten müssen eine klinische Bewertung ihrer Produkte durchführen, um sie in Europa vermarkten zu dürfen. Dazu muss der Hersteller anhand von klinischen Daten prüfen, ob das Medizinprodukt sicher und leistungsfähig ist. Der Hersteller beurteilt dann, ob die Risiken einer Anwendung in einem angemessenen Verhältnis zum erwarteten Nutzen stehen.
Folgt man dem Text der MDR, ist die klinische Bewertung ein letzter Schritt vor der Konformitätsbewertung. Es gibt aber auch die Möglichkeit, die klinische Bewertung von der Produktidee beginnend vorzubereiten und in den Entwicklungsprozess einzubinden. So kann auch die Anforderung aus Anhang XIV Absatz 1a) MDR für die „Bestimmung der grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen, die mit relevanten klinischen Daten zu untermauern sind” begründet werden.
Das hier vorgestellte Verfahren weicht möglicherweise von der üblichen Praxis bei Herstellern ab, daher wird es ausführlich begründet und es wird gezeigt, wie Herausforderungen bewältigt werden können und welche Vorteile sich aus der Anwendung in der Praxis ergeben.
Die Vorteile des hier dargestellten Verfahrens liegen in
der konsistenten Trennung der Aufgaben der klinischen Bewertung und des Risikomanagements in Leistungs- und Nutzennachweis einerseits und die umfassende Bearbeitung aller Risiken anderseits, die sowohl Doppelarbeit erspart als auch Lücken und Inkonsistenzen zwischen den Ergebnissen beider Verfahren vermeidet,
der frühzeitigen Einbindung der klinischen Bewertung in den Entwicklungsprozess, die Projektrisiken durch fehlende klinische Daten aus der Literatur und letztendlich ungeplante klinische Prüfungen vermeidet
der Klarstellung der Rolle des Standes der Technik, der technischen Nachweise und der Nachweise auf der Basis klinischer Daten sowie der Reihenfolge ihrer Anwendung in der Verifikation und Validierung
der Darstellung einer Vorgehensweise für Produkte, die vollständig dem Stand der Technik entsprechen.
Dieser Beitrag ist der erste von drei Teilen, in denen das Verfahren vorgestellt wird, die klinische Bewertung in den Entwicklungsprozess zu integrieren. Hier sind die Aufgabe der klinischen Bewertung, die historische Entwicklung und der aktuelle Stand der Regulierung in Europa grundsätzlich beschrieben und es werden Begriffe, Dokumente, Akteure, die klinische Prüfung und Prozesse und Qualitätssicherung erläutert. Dieser Beitrag soll Ihnen vor allem eine gute Argumentationsgrundlage gegenüber der Benannten Stelle bieten,
warum Ihre klinische Bewertung in dieser Weise in Ihrem Entwicklungsprozess integriert ist,
wie sie von dem etablierten Verständnis des Texts der MDR und MDCG-Dokumente abweicht und
wie die Anforderungen der MDR in Bezug auf den Nachweis von Sicherheit und Leistungsfähigkeit umgesetzt werden.
Im zweiten Teil erfahren Sie, wie Sie das Verfahren durchführen und dokumentieren. Der dritte Teil behandelt die klinische Bewertung in der Marktphase: Post-Market Clinical Follow-Up (PMCF). Insgesamt erfahren Sie Schritt für Schritt, welche regulatorischen Anforderungen Sie als Medizinproduktehersteller zu erfüllen haben und wie diese im Kontext weiterer Prozesse wie dem Risikomanagement und der Entwicklung zu sehen sind.
Umfang der klinischen Daten
Eine der größten Herausforderungen bei der klinischen Bewertung von Medizinprodukten [2] ist für Hersteller die Bestimmung des erforderlichen Umfangs der klinischen Daten. Denn in der EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Devices Regulation − MDR) Artikel 61 Absatz 1.2. heißt es: „Der Umfang des klinischen Nachweises muss den Merkmalen des Produkts und seiner Zweckbestimmung angemessen sein.
Dieser Umfang muss also vom Hersteller festgelegt und so gut begründet werden, dass die klinische Bewertung einer kritischen Prüfung sowohl der Benannten Stelle als auch möglicherweise des Expertengremiums im Scrutiny-Verfahren standhält. Ebenso ist letztendlich auch der Prüfung durch einen Gutachter in einem Schadensersatzprozess möglich.
Die Bestimmung des Umfangs erfolgt anhand des Innovationsgrads, der Risikoklasse und des implementierten klinischen Wissens des Produkts.
Der Innovationsgrad, die Risikoklassen und die Menge des „implementierten medizinischen Wissens” eines Medizinprodukts können sich jeweils über breite Spektren erstrecken.
Der Innovationsgrad kann von null (State-of-the-art-Produkt) bis komplett neu (sowohl der Verwendungszweck, das medizinische Verfahren als auch das dabei eingesetzte Produkt haben keine Vorgänger) reichen.
Die Risikoklasse kann von I bis III reichen.
Das implementierte medizinische Wissen kann von „nicht erforderlich” (bei einfachen Werkzeugen in der Hand des Menschen z. B. einem Spatel) bis „sehr hoch” sein (wissensbasierte Systeme in Therapie und Diagnose). Medizinisches Wissen umfasst epidemiologische Daten, Wissen über physiologische Zusammenhänge sowie therapeutisches, diagnostisches, anatomisches und pathologisches Wissen oder Kombinationen aus dem Vorgenannten.
Die erste Überlegung bei der Planung einer klinischen Bewertung sollte also darin bestehenden, das zu bewertende Medizinprodukt entlang dieser Kriterien einzustufen.
Abb. 1: Entscheidungsbaum Innovationsgrad
Abb. 2: Entscheidungsbaum Risikograd
Abb. 3: Entscheidungsbaum medizinisches Wissen

2 Aufgabe, Verfahren und Verantwortung der klinischen Bewertung in Europa

Die Aufgabe der klinischen Bewertung besteht darin, Nutzen, Leistungsfähigkeit und Sicherheit auf der Basis klinischer Daten nachzuweisen.
MDR Art. 61(1)
(1) Die Bestätigung der Erfüllung der einschlägigen grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen gemäß Anhang I bei normaler bestimmungsgemäßer Verwendung des Produkts sowie die Beurteilung unerwünschter Nebenwirkungen und der Vertretbarkeit des Nutzen-Risiko-Verhältnisses gemäß Anhang I Abschnitte 1 und 8 erfolgen auf der Grundlage klinischer Daten, die einen ausreichenden klinischen Nachweis bieten, gegebenenfalls einschließlich einschlägiger Daten gemäß Anhang III.
Das Verfahren der klinischen Bewertung wird als ein systematischer und geplanter Prozess zur kontinuierlichen Generierung, Sammlung, Analyse und Bewertung klinischer Daten (MDR Art. 61 (3)) beschrieben. Dabei sind die möglichen Quellen der Fachliteratur und die zu erfüllenden Bedingungen (MDR Art. 61 (3) Buchstabe a)) genannt. Weiter müssen auch die Daten aus klinischen Prüfungen berücksichtigt werden und die anzuwendenden Kriterien (Buchstabe b)) sind genannt. Der Stand der Technik und der Medizin kommt über die verfügbaren Behandlungsoptionen ins Spiel ((Buchstabe c).
MDR Art. 61 (3)
(3) Eine klinische Bewertung erfolgt nach einem genau definierten und methodisch fundierten Verfahren, das sich auf folgende Grundlagen stützt:
a)
eine kritische Bewertung der einschlägigen derzeit verfügbaren wissenschaftlichen Fachliteratur über Sicherheit, Leistung, Auslegungsmerkmale und Zweckbestimmung des Produkts; dabei müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:
das Produkt, das Gegenstand der klinischen Bewertung für die Zweckbestimmung ist, ist dem Produkt, auf das sich die Daten beziehen, gemäß Anhang XIV Abschnitt 3, nachgewiesenermaßen gleichartig und
die Daten zeigen in geeigneter Weise die Übereinstimmung mit den einschlägigen Sicherheits- und Leistungsanforderungen.
b)
eine kritische Bewertung der Ergebnisse aller verfügbaren klinischen Prüfungen, wobei gebührend berücksichtigt wird, ob die Prüfungen gemäß den Artikeln 62 bis 80, den nach Artikel 81 erlassenen Rechtsakten und gemäß Anhang XV durchgeführt wurden,
c)
eine Berücksichtigung der gegebenenfalls derzeit verfügbaren anderen Behandlungsoptionen für diesen Zweck.
Die Verantwortung für die Durchführung liegt beim Hersteller (MDR Art. 10.3.)). Die Hersteller führen eine klinische Bewertung nach Maßgabe der in Artikel 61 und in Anhang XIV festgelegten Anforderungen durch, die auch eine klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen umfasst. Der Hersteller kann zwar einen qualifizierten Lieferanten mit der Durchführung der klinischen Bewertung beauftragen, die Verantwortung verbleibt aber bei ihm. (Zu Lieferanten und ihrer Qualifizierung siehe Anhang II Nr. 3. c) MDR, Anhang VII Nr. 4.5.2 Buchstabe a) 2. Spiegelstrich MDR sowie EN ISO 13485:2016. Erläuterungen dazu finden sich in einem Blog-Beitrag des Johner-Instituts)

3 Anforderungen an die MDR

Der Text der MDR basiert auf den Anforderungen an dieses Regulierungsdokument; im Gesetzestext heißen sie Erwägungsgründe. Sie dokumentieren den Willen des Gesetzgebers und werden bei Auslegungsfragen zurate gezogen. Insbesondere befasst sich der Erwägungsgrund (33) mit dem Zusammenspiel von klinischer Bewertung und Risikomanagement:
Erwägungsgrund (33)
(33) Das Risikomanagementsystem sollte sorgfältig mit der klinischen Bewertung des Produkts abgestimmt und darin berücksichtigt werden, was auch für die klinischen Risiken gilt, denen im Rahmen der klinischen Prüfungen, der klinischen Bewertung und der klinischen Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen nachzugehen ist. Das Risikomanagement und die Verfahren der klinischen Bewertung sollten miteinander verknüpft sein und regelmäßig aktualisiert werden.
Die Verknüpfung zwischen klinischer Bewertung und Risikomanagement wird in diesem Text noch ausführlich besprochen. Dabei stehen Fragen des Ausschlusses von Lücken in der Bewertung von Risiken und das Vermeiden von doppelter Bearbeitung von Risiken im Zentrum. Für das weitere Vorgehen ist hier festzuhalten, dass die Behandlung klinischer Risiken hier fordert, dass ihnen in der klinischen Bewertung nachzugehen ist. Der Erwägungsgrund (64) beschreibt Anforderungen an Daten für Klasse-III-Produkte und -Implantate:
Erwägungsgrund (64)
(64) Um ein hohes Sicherheits- und Leistungsniveau zu gewährleisten, sollte der Nachweis der Erfüllung der in dieser Verordnung festgelegten grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen auf klinischen Daten beruhen, die bei Produkten der Klasse III und implantierbaren Produkten grundsätzlich aus klinischen Prüfungen stammen sollten, die unter der Verantwortung eines Sponsors durchgeführt wurden. Sowohl der Hersteller als auch eine andere natürliche oder juristische Person sollte der Sponsor sein können, der die Verantwortung für die klinische Prüfung übernimmt.
Die Forderung nach klinischen Daten, die aus Prüfungen mit einem Sponsor stammen, schränkt schon an dieser Stelle stark ein, da damit die Anforderung der geplanten und kontrollierten Studie verknüpft ist (s. dazu auch die Erwägungsgründe (69) bis (71)). Erwägungsgrund (74) beschreibt die Anforderungen an den Hersteller in der Phase nach dem Inverkehrbringen und dort auch die an die Aktualisierung der klinischen Bewertung:
Erwägungsgrund (74)
(74) Die Hersteller sollten in der Phase nach dem Inverkehrbringen eine aktive Rolle spielen, indem sie systematisch und aktiv Informationen über die Erfahrungen mit ihren Produkten nach dem Inverkehrbringen zusammentragen, um ihre technische Dokumentation auf dem neuesten Stand zu halten; sie sollten mit den für Vigilanz- und Marktüberwachungstätigkeiten zuständigen nationalen Behörden zusammenarbeiten. Zu diesem Zweck sollten die Hersteller im Rahmen ihres Qualitätsmanagementsystems und auf der Grundlage eines Plans zur Überwachung nach dem Inverkehrbringen ein umfassendes System zur Überwachung nach dem Inverkehrbringen errichten. Im Zuge der Überwachung nach dem Inverkehrbringen erhobene einschlägige Daten und Informationen sowie im Zusammenhang mit durchgeführten präventiven und/oder korrigierenden Maßnahmen gesammelte Erfahrungen sollten zur Aktualisierung aller einschlägigen Teile der technischen Dokumentation, wie etwa derjenigen zur Risikobewertung und zur klinischen Bewertung, genutzt werden und zudem der Transparenz dienen.
Die Aktualisierung der klinischen Bewertung auf der Basis der Daten aus dem PMCF wird hier als Anforderung formuliert. Erwägungsgrund (83) beschreibt die Anforderungen an das sogenannte „Scrutiny-Verfahren” (Das Verfahren zur Erstellung des Gutachtens zu den Berichten der Benannten Stellen wird üblicherweise mit dem im Englischen gebräuchlichen Begriff bezeichnet):
Erwägungsgrund (83)
(83) Expertengremien und Fachlaboratorien sollten von der Kommission auf der Grundlage ihres aktuellen klinischen, wissenschaftlichen bzw. technischen Fachwissens mit dem Ziel benannt werden, der Kommission, der Koordinierungsgruppe Medizinprodukte, den Herstellern und den Benannten Stellen wissenschaftliche, technische und klinische Unterstützung bei der Durchführung dieser Verordnung zu leisten. Im Übrigen sollte den Expertengremien die Aufgabe zufallen, ein Gutachten zu den Berichten der Benannten Stellen über die Begutachtung der klinischen Bewertung bei bestimmten mit einem hohen Risiko behafteten implantierbaren Produkten zu erstellen.
Die Ergebnisse der Scrutiny-Verfahren werden in diesem Text besprochen und es wird diskutiert, welche Schlüsse daraus für die klinische Bewertung für den Hersteller zu ziehen sind.

4 Historische Entwicklung: MDD, MEDDEV, MDR, MDCG

Die Kenntnis der historischen Entwicklung bildet die Grundlage für die kritische Auseinandersetzung mit dem aktuellen Stand der regulatorischen Anforderungen und ihrer Fassung in den Texten der Gesetze, Verordnungen und Richtlinien.
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