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09306 In-silico-Modelle: Nachweis der Modellglaubwürdigkeit

Die computergestützte Modellierung und Simulation (CM&S) wird seit einigen Jahren im Zulassungsprozess von Medizinprodukten eingesetzt. Mit Hilfe von sogenannten in-silico-Modellen können die für die Bewertung der Sicherheit und Leistungsfähigkeit von Medizinprodukten erforderlichen Daten generiert werden. Für den sicheren Einsatz im Entwicklungs- und Zulassungsprozess muss jedoch die Glaubwürdigkeit des Modells nachgewiesen werden. Dazu wurde in den USA der technische Standard ASME V&V 40:2018 veröffentlicht, dessen praktische Anwendung in diesem Beitrag skizziert wird. Alle notwendigen Schritte zum Nachweis der Modellglaubwürdigkeit werden exemplarisch anhand einer individuellen 3D-gedruckten Handgelenkorthese dargestellt.
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1 Einleitung

Gemäß der Medical Device Regulation (MDR) müssen Hersteller von Medizinprodukten vor dem Inverkehrbringen in einem Konformitätsbewertungsverfahren nachweisen, dass das Produkt die grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen erfüllt [1]. Seit einigen Jahren wird die computergestützte Modellierung und Simulation (CM&S) als leistungsfähiges Tool zur Generierung der dafür erforderlichen Daten eingesetzt [2]. Da mit Hilfe der CM&S das Verhalten eines Medizinprodukts unter verschiedenen Bedingungen relativ einfach und schnell untersucht werden kann [3], ist zu erwarten, dass sie in Zukunft verstärkt als Datenquelle im Zulassungsprozess genutzt wird [4]. Insbesondere im Zusammenhang mit neuen Technologien. So ist beispielsweise die additive Fertigung längst keine reine Prototypentechnologie mehr, sondern wird in den verschiedensten Produktionsfeldern für den wirtschaftlichen Einsatz genutzt. Unter anderem auch bei der Herstellung von Medizinprodukten [5]. Durch den Einsatz der additiven Fertigung können Produkte in Form, Struktur und Funktion an die individuellen Patientenbedürfnisse angepasst werden. Jede Anpassung stellt jedoch eine Konstruktionsänderung dar, die entsprechende Risikomanagementmaßnahmen oder erneute Produktprüfungen erfordert, um die Patientensicherheit weiterhin zu gewährleisten. Herkömmliche Prüfmethoden sind daher weder in der Praxis anwendbar noch wirtschaftlich. Erst die CM&S ermöglicht eine praktikable, fallbezogene Bewertung personalisierter Medizinprodukte.
Bevor sogenannte in-silico-Modelle sicher im Zulassungsprozess von Medizinprodukten eingesetzt werden können, müssen sie jedoch verifiziert und validiert werden [6]. Durch Verifikation, Validierung und Quantifizierung der Unsicherheit wird Vertrauen in die Vorhersagefähigkeit des Modells aufgebaut, was allgemein als Modellglaubwürdigkeit bezeichnet wird [7]. Damit in der Praxis klar ist, wie viel Verifikation und Validierung nötig ist, um die Glaubwürdigkeit des Modells und damit der erzeugten Simulationsergebnisse zu belegen, ist ein Konsens über das erforderliche Verifikations- und Validierungsniveau notwendig [2]. Ein klar definierter regulatorischer Rahmen ist daher unabdingbar. Dieser fehlt bisher in Europa, siehe dazu auch [8]. In den USA hingegen wurden die Möglichkeiten und Potenziale der CM&S bereits vor etwa zehn Jahren erkannt und von der U.S. Food and Drug Administration (FDA) zur strategischen Priorität erklärt. In der Folge veröffentlichte das Center for Devices and Radiological Health (CDRH) im Jahr 2016 einen Leitfaden zur FDA-konformen Berichterstellung von CM&S. Zwei Jahre später folgte die Herausgabe des technischen Standards ASME V&V 40:2018 „Assessing Credibility of Computational Modeling through Verification and Validation: Application to Medical Devices” [2]. Im November 2023 hat die FDA zudem die Guidance „Assessing the Credibility of Computational Modeling and Simulation in Medical Device Submissions” veröffentlicht. Damit werden weite Teile der ASME V&V 40:2018 offiziell von der FDA übernommen. Hersteller sind somit zukünftig dazu verpflichtet, die Modellglaubwürdigkeit bei der Nutzung von CM&S als gültige Evidenzquelle im Zulassungsprozess von Medizinprodukten nachzuweisen.
Die ASME V&V 40:2018 beschreibt einen risikobasierten Ansatz zur Festlegung angemessener Anforderungen an die Glaubwürdigkeit eines Berechnungsmodells. Es wird definiert, wie viel Verifikation, Validierung und Unsicherheitsquantifizierung für die Verwendung eines In-silico-Modells bei der Entwicklung und Zulassung von Medizinprodukten erforderlich ist. Ziel ist der Nachweis, dass das verwendete Modell für den jeweiligen Anwendungskontext zuverlässig ist [9]. Die dazu notwendigen Schritte werden im Folgenden skizziert:
1.
Definition der allgemeinen Fragestellung (Question of Interest): Die allgemeine Fragestellung beschreibt eine konkrete Frage, Entscheidung oder ein Problem, das beantwortet werden soll.
2.
Festlegung des Anwendungskontexts (Context of Use, COU): Der Anwendungskontext beschreibt die Funktin und den Umfang des Berechnungsmodells bei der Beantwortung der allgemeinen Fragestellung.
3.
Abschätzung des Modellrisikos (Model Risk): Das Modellrisiko beschreibt die Möglichkeit, dass die Anwendung des Berechnungsmodells zu einer Entscheidung führt, die potenzielle Folgen für die Gesundheit der Patient*innen oder andere unerwünschte Konsequenzen haben kann.
4.
Nachweis der Modellglaubwürdigkeit durch geeignete Verifikations- und Validierungsaktivitäten sowie die Bewertung der Anwendbarkeit und der damit verbundenen Ziele für jeden Glaubwürdigkeitsfaktor in Abhängigkeit vom Modellrisiko [2].
Die verbleibenden Schritte bestehen darin, die durch die Verifikation und Validierung erbrachten Nachweise sowie alle anderen relevanten Informationen, die die Modellglaubwürdigkeit untermauern, zu sammeln. Darüber hinaus ist zu bewerten, ob die zuvor festgelegten Glaubwürdigkeitsziele erreicht wurden. Das heißt, ob das Modell für den jeweiligen Anwendungskontext ausreichend glaubwürdig ist bzw. ob die durchgeführten Verifikations- und Validierungsaktivitäten und die erzielten Ergebnisse ausreichen, um die Modellglaubwürdigkeit zu belegen. Zuletzt müssen die Ergebnisse dokumentiert werden.
Da nach aktuellem Kenntnisstand der Autor*innen bisher nur wenige Anwendungsbeispiele der ASME V&V 40:2018 in der Literatur zu finden sind [6] [10] [11] [12] [13], ist es das Ziel des vorliegenden Artikels, die praktische Anwendung des technischen Standards am Beispiel einer individuellen 3D-gedruckten Handgelenkorthese darzustellen. Dabei werden die notwendigen Schritte zum Nachweis der Modellglaubwürdigkeit aufgezeigt.

2 Praktische Anwendung der ASME V&V 40:2018

Die Ausführungen zur praktischen Anwendung der ASME V&V 40:2018 am Beispiel einer individuellen 3D-gedruckten Handgelenkorthese basieren auf Daten, die im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten interdisziplinären Forschungsprojekts „Simulationsgestützte Medizintechnikplattform zur individuellen 3D-Hilfsmittelversorgung (SIGMA3D)” [14] erhoben wurden. Es sei darauf hingewiesen, dass dieser Artikel keine allgemeingültige Vorgehensweise liefert. Statt konkrete Empfehlungen zu geben, soll vielmehr aufgezeigt werden, was im Kontext der ASME V&V 40:2018 erforderlich ist, um eine ausreichende Modellglaubwürdigkeit nachzuweisen.
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