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00500 Produktentwicklung im ersten Anlauf

Dieser Beitrag führt anhand eines Beispiels durch die Themen von „Medizinprodukte planen, entwickeln, realisieren – der CE-Routenplaner”. Er soll Ihnen die Suche nach Ihrer Route zur CE-Kennzeichnung Ihres Medizinprodukts erleichtern.
Zudem wird auf die entsprechenden Hauptkapitel des Werks verwiesen, in denen Sie weiterführende Praxisinformation zu jedem Meilenstein in der Entwicklung Ihres Medizinprodukts finden.
von:
→ Phase 0 Projektinitiierung

1 Marktrecherche

Vertriebsleute, Ingenieure und Wissenschaftler, alle bewegen sich regelmäßig auf Kongressen oder Messen und kommen so mit Anwendern in Kontakt. Immer werden Gespräche geführt, es wird gefachsimpelt und dabei werden Ideen geboren. Nicht alle Ideen sind gut, nicht alles ist innovativ, aber immer wieder ist etwas dabei, was eine Produktentwicklung wert erscheinen lässt. Ein Beispiel soll nun zeigen, wie man weiter vorgehen soll.
Beispiel
Stellen Sie sich vor, auf einer Messe spricht Sie ein Meinungsbildner an und sagt Ihnen, dass seine Patienten immer ein Problem hätten, ihn zu kontaktieren, wenn die Therapie einen unerwünschten Verlauf nähme. Mit Nachfragen finden Sie heraus, dass es sich um Patienten handelt, die bei unzureichender Dosierung oder aber Verzögerungen der Verabreichung eines Medikaments in komatöse Zustände verfallen können. Sollte der Patient dann keine Hilfe in Form einer Fremdgabe des Medikaments erfahren, so kann er daran versterben.
Die Idee ist geboren! Ein Beeper, ein Notfallsensor mit Sender oder ein spezielles Mobiltelefon ... – Nun das wissen wir noch nicht. Im Moment kennen wir nur grob die Situation in der Hilfe angesagt ist. Nun gilt es, diese Situation, genauer zu ergründen. Es gilt herauszufinden, welche Patienten (Vorerkrankungen, Krankheitsbild, Alter, Geschlecht etc.) betroffen sind. Auch sind deren Lebensumstände wichtig, so berichtet besagter Mediziner, dass es sich hauptsächlich um Patienten in häuslicher Umgebung handelt, die sich die Medikation selbst applizieren.
Marktpotenzial
Nun gilt es, noch vieles weiteres herauszufinden: das Marktpotenzial, also wie viele potenzielle Anwender es geben kann, wer das Produkt bezahlen soll (MÎglichkeit zum Reimbursement?), wie lange eine Anwendung sein sollte und vieles mehr, was für Sie bzw. Ihr Marketing und den Vertrieb extrem wichtig sein kann.
Im Kapitel 01 Marktrecherche (s. Kap. 01000) finden Sie genau die obigen Inhalte wieder. Es geht in der Recherche darum, kennenzulernen, in welchem Markt man sich mit dem eigenen Unternehmen/Produkt bewegt. Daten wie Anwender-Population, soziale Zugehörigkeit, Altersstufen, Vorerkrankungen, Bildungs- und Kenntnisstand, mögliche Ertragslage, erlösbare Preise, Erstattungssysteme, mögliche geografische/politische Märkte und im Markt bereits vertretene ähnliche Produkte gilt es herauszufinden. Je mehr Daten man hat, desto zielgerichteter kann eine Produktentwicklung erfolgen. Allerdings sollten keine Datenfriedhöfe angelegt werden.
Was tun mit den Daten?
Wie schon oben gesagt ist Ihnen nicht geholfen, wenn Sie nur Daten sammeln, ohne diese zu nutzen. Sie sollten damit die Voraussetzungen und Randbedingungen für die folgende Produktentwicklung schaffen. So wird das Risikomanagement-Team (M&V, F&E) anhand der erhobenen Marktdaten die Ziel- und Anwendergruppen festlegen bzw. auswählen. Ebenfalls werden jetzt die Bedingungen der Anwendung ermittelt, also mit welchem Kenntnisstand in welcher Anwendungsumgebung (z. B. Temperatur, Feuchtigkeit, Druck, Staub) der vorhersehbare Anwenderkreis das mögliche Produkt nutzen wird.
Auch das Usability-Team wird tätig und definiert aus den obigen Daten Dokumente, die die vorhersehbaren Nutzer, die vorhersehbare Patientenpopulation und die vorhersehbare Nutzungsumgebung des Produkts beschreiben. Dies stellt später die Grundlage der zu entwickelnden Testkonzepte zur Verifizierung (s. Kap. 08000) bzw. Validierung (s. Kap. 09000) des Produkts dar.
Natürlich sind auch die Kliniker bzw. Mediziner nicht untätig und sammeln weitere Informationen aus der klinischen Praxis, um den Zielmarkt weiter zu präzisieren. So werden die täglichen Anforderungen, Rahmenbedingungen und Erfahrungen des Anwenderkreises und möglicherweise vergleichbare Produkte hier identifiziert.

2 Produktidee

Beispiel
Schon während alle Daten zum möglichen Markt und der möglichen Anwendung gesammelt werden, gärt natürlich der schöpferische Wille und es manifestiert sich langsam eine Produktidee (s. Kap. 02000) heraus. Mit den Daten der Erlössituation wurde klar, dass man mit einer Verordnung durch die Krankenkassen nicht wirklich rechnen kann. Also sollte das Produkt einen klar identifizierbaren Zusatznutzen bieten, um für Selbstzahler attraktiv zu sein.
Zudem wurde klar, dass die anzunehmende Hauptnutzergruppe wohl eher gehobenen Alters sein wird und in einem überschaubaren, aber gesicherten Wohlstand lebt. Zielgruppe (User Specification) sind also die sogenannten „Golden Agers”. Aus der vagen Idee wird nun immer mehr ein Mobiltelefon mit Notrufeinrichtung und großen, altersgerechten Bedieneinheiten. Bei der Suche nach möglichen Vergleichsprodukten kann man auch ganz klar Vergleichspreise definieren und eventuelle Zusatzfunktionen (Erinnerungsfunktionen zur Medikation oder gar eine regelmäßig angeforderte Bestätigung, die bei Nichterfolgen zur Benachrichtigung des Mediziners führt) werden offensichtlich, sobald man erste Risikobetrachtungen anstellt.
Funktionalitäten
Die herausragende Aufgabe des Risikomanagements ist es jetzt, die Funktionalitäten des zu entwickelnden Produkts zu definieren. In unserem Beispiel wären diese das Wählen und Anzeigen einer Nummer, Sprechen, Hören, Einprogrammieren einer beliebigen Nummer des Arztes, die direkte Kontaktaufnahme mit dem Arzt auch bei eingeschränkter Auffassungsgabe, Totmannfunktion, das Transportieren des Produkts im täglichen Umfeld, die Erinnerung des Patienten an die korrekte Einnahme durch einen Warnton etc.
Diese obigen Funktionen sind durchaus voneinander abhängig, sodass eine grafische Darstellung der Abhängigkeiten in einem Blockschaltbild oder einer Greybox sinnvoll ist. Das ist eine gute Basis für das Usability-Team, da dieses ebenfalls die Funktionalitäten betrachtet, um diese Hauptbedienfunktionen zu klassifizieren in häufig genutzte Funktionen und sicherheitsrelevante Funktionen. Letztere sind die, die zur Funktion des Produkts nicht wirklich nötig sind, aber zur Sicherheit des Patienten enthalten sein sollten. In unserem Beispiel ist die Einhandbedienung des zentralen Notrufknopfs eine solche sicherheitsrelevante Funktion.
Zweckbestimmung
Weiterhin werden im Team die Zweckbestimmung, also die vorgesehene Produktanwendung (hier: Erkennen von komatösen Zuständen aufgrund fehlender bzw. unpassender Medikation und Kontaktaufnahme zu dem behandelnden Arzt), und die typische physikalische Nutzungsumgebung beschrieben. Zudem kann das Usability-Team zu diesem Zeitpunkt erste Anwendungsszenarien (Use Cases) definieren, also vorgesehene Anwendungen, die dann der Beurteilung der Machbarkeit der Produktentwicklung dienen können.

3 Machbarkeit

Beispiel
Mobiltelefone gibt es schon viele auf dem Markt. Warum soll der Patient ausgerechnet für unser Produkt sein gutes Geld ausgeben?
Was also unterscheidet unser Produkt von Mitbewerberprodukten, damit trotzdem ein Absatzmarkt entsteht? Diese auch Feasibility genannte Schritt (s. Kap. 03000) wird von der Medizinprodukte-Rechtslage definitiv nicht gefordert und dennoch macht sie für ein wirtschaftlich denkendes Unternehmen extrem viel Sinn.
Feasibility
Wir sollten uns die Frage stellen, ob die bisher genutzten Vertriebskanäle über den medizinischen Fachhandel wirklich ausreichend sind. Können wir andere Vertriebskanäle, z. B. Elektronikmärkte, nutzen? Passt das zur Unternehmensphilosophie? Zudem sollten die Fertigungstechniker ein Wörtchen mitreden, ob die vorhandene Fertigungstechnik auch für diese Produkte anwendbar ist oder aber auch diese komplett neu entwickelt und angeschafft werden soll. Auch die „Make-or-Buy”-Entscheidung kann hier anstehen. Dies alles drückt die Rentabilität und gefährdet unter Umständen auch den Bestand des Unternehmens.
Am Ende ist es eine Entscheidung des Managements, ob das Entwicklungsprojekt gestartet wird oder nicht. Hier nun greift bei einer positiven Entscheidung wieder das Medizinprodukterecht, denn von nun an muss die weitere Produktentwicklung systematisch dokumentiert werden.
→ Phase 1 Projektplanung

4 Entwicklungsplan

Beispiel
Ist die Entscheidung getroffen, ein solches Warngerät zur Marktreife zu bringen, fragt der Vertrieb nach, wann das Produkt auslieferfähig ist. Auch das Marketing will wissen, wann das Produkt vorgestellt werden soll und welche Leistungen und Features es wohl hat.
Beides wissen die Entwicklungsingenieure noch nicht. Ein Plan muss her, der allen Beteiligten Auskunft gibt, wann eine erste Leistungsdefinition vorliegt, wann diese beweisbar (Verifizierung s. Kap. 08000) und ab wann ein Verkauf oder erste Abgabe an einen ersten Patienten oder Fachanwender (s. Kap. 11000) erfolgen kann.
Dieser Entwicklungsplan (s. Kap. 04000) unseres „Telefons” definiert nicht nur die Meilensteine wie oben benannt; auch das einzusetzende Team, die möglichen Kosten, die Marketingaktivitäten und Zulassungsmodalitäten und zeitliche Aufwendungen (CE-Kennzeichnung bzw. Konformitätsbewertungsverfahren, FDA-Approval, Hilfsmittelliste etc.) sind mit zu benennen.
Reviews
Selten verläuft ein Entwicklungsprojekt wie geplant. Daher bauen wir zu wesentlichen Schritten (Milestones) Reviews (s. Kap. 13000) ein, die allen Beteiligten die Möglichkeit geben, den Stand des Projekts zu erkennen, aber auch, Bedenken oder gemachte Erfahrungen zu äußern. Diese Bedenken werden wiederum vom Entwicklungsteam aufgenommen, bewertet und eventuell mit Maßnahmen umgesetzt. Natürlich kann es dabei auch zu einer Revision des Entwicklungsplans oder auch im Extremfall zu der Einstellung des Entwicklungsprojekts kommen, was wir nicht hoffen wollen.
Risikomanagementplan
Auch beim Erstellen des Entwicklungsplans gibt es besondere Aufgaben des Risikomanagements. Es gilt, einen Risikomanagementplan festzulegen. Dieser soll zu jeder Entwicklungsphase die Teilnehmer des Risikomanagement-Teams sowie deren Rechte und Pflichten festlegen. So soll das Team in den wesentlichen Findungsstadien auch Vertrieb und Marketing einschließen, und ganz ohne Anwender bzw. Patienten kommt man nicht aus, soll eine praxisrelevante Einschätzung möglich werden.
Auch die Risikophilosophie des Unternehmens bezogen auf das Produkt, die Akzeptanzkriterien auf Basis der Akzeptanz im Markt etc. müssen definiert und mit der Unternehmens- bzw. Qualitätsphilosophie abgestimmt und im Risikomanagementplan definiert werden.
Usability-Team
Das Usability-Team muss jetzt definiert werden, ebenso wie die zeitliche und inhaltliche Durchführung der Usability-Maßnahmen mit und ohne Nutzer-/Patientenbeteiligung. Das beinhaltet eine Auflistung der in den Studien zu untersuchenden Fragestellungen (Use Cases) und Beschreibung der Rekrutierungskriterien (User Specifications) für die Testpersonen.
Klinische Studie?
Muss eine klinische Studie sein? Immer wieder drohen Entwicklungsprojekte zu scheitern, weil viel zu spät bemerkt wird, dass regulatorische Anforderungen (z. B. klinische Studien) für die CE-Kennzeichnung erforderlich sind. Deshalb macht es absolut Sinn, auch von dem klinischen Aspekt her eine Planung zu starten, die mit dem Beginn der klinischen Bewertung Hand in Hand geht.
Auch andere Gründe können klinische Studien nötig machen, z. B. Marketingstrategien, daher ist die frühzeitige Einbeziehung klinischer Experten in das Planungsteam wichtig. Diese Planungsphase kann eine erfolgreiche und reibungslose Durchführung einer klinischen Studie gewährleisten, kann aber ob der Komplexität mehrere Monate dauern. Auch eine Abschätzung der Kosten, der Erstattungsfähigkeit oder ob die Eintragung in das Hilfsmittelverzeichnis sinnvoll ist, sollte spätestens hier erfolgen.

5 Lastenheft

Beispiel
Es ist also raus, ein Mobiltelefon soll es werden mit ein ‚paar’ Sonderfunktionen.
Ganz so leicht ist das neue Produkt aber nicht entwickelt. Zuerst sollten wir noch wissen, was die vorhersehbaren Anwender von dem Telefon erwarten. So können wir sicher sein, dass ein älterer Patient keineswegs ein kompliziertes User Interface bei seinem Telefon haben will. Auch ist die Notwendigkeit zu integrierten Musik-Aufnahme- oder Wiedergabesystemen nicht sehr groß. Dagegen sollte die Notruffunktion auch ohne Sehhilfe erkennbar und bedienbar sein, eventuell sogar bei Dunkelheit.
Wir sammeln zusammen mit Anwendern deren Anforderungen an das Produkt in einem Dokument, dem Lastenheft (s. Kap. 05000). Dabei sollte auch definiert werden, was die Entscheidungs- bzw. Akzeptanzkriterien der potenziellen Anwender bei der Produktauswahl und Produktanwendung sein werden.
Noch hat ausschließlich der Anwender bzw. in unserem Beispiel der Patient das Wort. Daher geht es hier auch erstmal um seine Forderungen und Wünsche, die wir erfassen, um zu sehen, wie die daraus abgeleiteten Produktfunktionen realisiert werden können. Unterschiedliche Realisationen bergen auch unterschiedliche Risiken für den Patienten, die im Risikomanagement zu identifizieren und zu quantifizieren sind. So kann hier die Entscheidung über mögliche technische Umsetzung, Produktionsmethoden etc. getroffen werden.
Zielparameter
Was ist entscheidend an der Gestaltung der Notruffunktion? Kann das ein virtueller Button auf dem Touchscreen des Mobiltelefons sein? Wenn wir zurückblicken, was die Datenanalyse erbracht hat, stellen wir fest, dass der Patient in eine Notsituation geraten kann. Nicht immer ist er dabei in der Lage, visuell das User Interface zu erfassen. Die Notruf-Funktion sollte daher ertastbar sein. Dies ist Teil der User Interface-Requirements, die das Usability-Team jetzt mindestens beisteuert.
Die oben entwickelten Anforderungen sind genau die Daten, die Kliniker brauchen, um nun die Studienidee für eine klinische Prüfung zu differenzieren und daraus ein mögliches Studiendesign oder die Zielparameter der Studie festzulegen.

6 Pflichtenheft

Beispiel
Viel weiter sind wir damit noch nicht! Zwar wissen wir jetzt, was der Patient will, aber nun gilt es, dem Softwareentwickler zu sagen, was sein Modul können muss. Das gleiche erwarten die Hardwarekonstukteure und nicht zuletzt auch die Fertigungsingenieure.
Nun muss definiert werden, wie die Notruffunktion wirklich ausgelegt werden muss. Es soll ein Taster mit signalroter rutschfester Oberfläche sein, der mindestens 3 mm in die Gehäuseoberfläche eingelassen ist. Auch der Tasterhub und die Druckkraft werden auf Basis der zur Verfügung stehenden Daten über die User-Group definiert und im Pflichtenheft (s. Kap. 06000) dokumentiert.
So kommen wir zu technischen, also messbaren Angaben, die die Ingenieure dann in den nächsten Schritten umsetzen können.
Schon am Beispiel des Tasters sehen Sie, dass zumindest wenn es um Funktionen geht, die eine Reaktion (Eingabe) des Patienten/Anwenders bedarf, kein Techniker ohne den Usability-Ingenieur eine Spezifikation festlegen kann. Daher muss das Risikomanagementteam ganz eng mit dem Usability-Team zusammenarbeiten, um sinnvolle Produkt-Spezifikationen zu entwickeln.
So wird hier auf jeden Fall eine weitere Version (Weiterentwicklung) der Risikomanagement-Akte erstellt, in die auch Erfahrungen mit „Alt-Projekten” eingehen. Sinnvollerweise wird hier die Aufteilung des Produkts in Module (Architectural Design) erfolgen. Auch der zuvor erstellte Usability Validation Plan wird nun genauer spezifiziert und erhält eine Beschreibung der Methoden für die Validierung und die Kriterien für deren Akzeptanz.
Hatten wir bisher nur über die klinische Prüfung gesprochen, wird es nun aber höchste Zeit, auch über die präklinischen Daten und andere klinische Daten (z. B. klinische Studien von vergleichbaren Medizinprodukten) zu sprechen. Richtschnur für die benötigten, zu erzeugenden oder zu sammelnden Daten sind die Grundlegenden Anforderungen der Europäischen Medizinprodukteverordnung (MDR), die in diesem Stadium identifiziert und projektiert werden.
→ Phase 2 Projektrealisierung

7 Entwicklung

Beispiel
Bis jetzt haben wir viel Papier beschrieben, aber das wirklich Interessante, das Trial & Error des eigentlichen Entwicklungsgeschäfts, blieb bisher aus. Das kommt jetzt (s. Kap. 07000)
Jetzt weiß der Software-Entwickler, wann welche Signale von dem Patienten erwartet werden, und kann diese programmieren. Es ist ihm bekannt, dass das Signal des Notfalltasters Vorrang hat vor allen anderen Operationen des Mobiltelefons, und er kann das so in die Workflows aller Funktionen einbauen.
Ähnlich geht es dem Gehäusebauer, dem nun bekannt ist, welche Materialanforderungen (z. B. Biokompatibilität) nötig werden und wie groß und schwer das Gehäuse sein darf. Auch die benötigten Tasten, deren Beschriftung, Gestaltung und Größe etc. sind ihm definiert.
Wir stellen fest, dass hier absolut entscheidend ist, wie gründlich die vorhergehenden Schritte durchgeführt wurden. Abhängig von der Komplexität des Produkts kann es nun recht schwierig werden.
Begleitdokumente
Vergessen wir nicht, dass jetzt auch alle Begleitdokumente (Gebrauchsanweisung, Verpackung etc.) entwickelt werden, ebenso wie eventuell nötige Patienten- oder Vertriebsschulungen (entscheidet sich im Risikomanagement!), nötige Wartungstätigkeiten oder die Fertigung.
Risikomanagement
Parallel zu dem Entwicklungsprozess wird entsprechend dem Entwicklungsfortgang das Risikomanagement weiter gepflegt. Die einzelnen Module werden immer genauer auf mögliche Gefährdungen abgeklopft und daraus konstruktive Änderungen oder Maßnahmen abgeleitet. Hinweise im Labeling (Kennzeichnung, Gebrauchs- und Installationsanweisung), aber auch Trainingsanforderungen oder Wartungs-/Instandhaltungsmaßnahmen werden hier im Risikomanagement definiert.
Auch das Usability-Team ist nicht untätig und verfeinert parallel zum Entwicklungsfortgang die Spezifikation der Gebrauchstauglichkeit, die die Anforderungen an die Benutzer-Gerät-Schnittstelle beschreibt. Des Weiteren werden Benutzungsszenarien identifiziert und beschrieben, die sich in oft vorkommende Benutzungsszenarien und Worst-Case-Szenarien aufteilen.
Usability-Tests
Aber die Usability-Ingenieure arbeiten nicht nur theoretisch; Entwicklungsbegleitend werden für einzelne Funktionen, Komponenten oder Module schon Usability-Tests durchgeführt und Begleitdokumente (Gebrauchsanweisung/Schulungsunterlagen) auf ihre Verständlichkeit und Anwendbarkeit überprüft.
In der präklinischen Betrachtung: Materialien, Produktionshilfsmittel und Klebetechniken werden auf Toxizität und Biokompatibilität überprüft. Eine Sichtung der Lieferantendokumentation kann hier sehr weit helfen, doch oft sind zusätzlich noch Tests nötig. Auch die nach REACH notwendigen Sicherheitsdatenblätter sind nun Thema.

8 Design Transfer

Beispiel
Das erste Notfalltelefon liegt vor uns! Es funktioniert auch fast so gut, wie wir es uns vorgestellt haben. Das Gehäuse ist noch nicht aus dem Serienwerkzeug gefallen und auch die Platine ist noch manuell bestückt, aber wir haben ein Produkt.
Jetzt folgt die Umsetzung in die Serienfertigung. Aber Vorsicht: Wissen doch erfahrene Verfahrenstechniker, dass oft zwischen Prototypen und in Serie hergestellten Produkten Welten liegen. Waren die Gehäuse bei dem Prototypen-Telefon noch nach Rapid Prototyping ohne Formtrennmittel erzeugt, so können in der Serienfertigung Leitfähigkeiten, Biokompatibilität und auch die Bruchstabilität wesentlich differieren.
Es rentiert sich also, diesen Übergang auf die Fertigungsstraße in einen eigenen Entwicklungs-Schritt (s. Kap. 07500) zu betrachten. Doch auch die Übertragung der Entwicklungsergebnisse in die Abteilung Marketing und Vertrieb bzw. zu den Servicemitarbeitern ist nun entsprechend geplanter Verfahren durchzuführen.
Häufig werden bis zu diesem Stadium im Risikomanagement lediglich Produktrisiken und Anwendungsrisiken betrachtet. Spätestens jetzt findet dies Ergänzung durch Risiken aus der Herstellung, Transport, Lagerung bis hin zur Wartung/Instandhaltung des Produkts. Nun werden auch die Entscheidungen getroffen, ob Produktprüfungen in der Produktion ausreichend sind oder einzelne Prozessschritte oder Fertigungsanlagen einer Validierung bedürfen. Entscheidend hierzu ist z. B. der Wissensstand der Fertigungsmitarbeiter, sodass die Usabilitybetrachtung der Fertigungs- und Serviceprozesse Sinn macht.
Auch die Präklinik (Biokompatibilität) wird nun vervollständigt, indem die Fertigprodukte aus den ersten Fertigungs-Lots den Toxizitäts- und Biokompatibilitätstests unterzogen werden. Dies alles muss später Eingang finden in die klinische Bewertung.

9 Verifizierung und Validierung

Beispiel
Die Produktionsanlage ist störungsfrei durchgelaufen und die erste Produktionsserie wird in den Händen gedreht. Auch die Vertriebsmitarbeiter sind in heller Aufregung und machen schon die Musterkoffer auf. – Der Markt wartet! Wie schnell können wir liefern?
Jeder kennt die Situation, aber das Produkt ist noch kein Produkt. Noch haben wir die Produktkonformität (s. Kap. 11000) nicht vollständig nachgewiesen.
So das noch nicht entwicklungsbegleitend passiert ist, müssen wir nun nachweisen, dass der Notruftaster wirklich signalrot ist, die richtige Größe hat, nicht schwerer geht als geplant, nicht unbeabsichtigt ausgelÎst wird etc.
Die gesamten zuvor festgelegten Spezifikationen müssen verifiziert werden (s. Kap. 08000). Es können verschiedenste Mittel je nach Spezifikation genutzt werden. So gehören hier Usability-Tests, technische Tests aber auch präklinische Untersuchungen zu den normalen Mitteln.
Ist dann nachgewiesen, dass das Telefon immer so laut Alarm gibt, wie wir es technisch spezifiziert haben, müssen wir nur noch beweisen, dass der Patient und das Notfallpersonal es auch in kritischen Situationen hören. So können wir uns Situationen vorstellen, z. B. in der überfüllten S-Bahn, wo es dem etwas gehandicapten Patienten schwerfallen könnte, das Signal wie gewünscht wahrzunehmen. Genau diese Situationen sind es, die wir in der Design-Validierung (s. Kap. 09000) nachstellen werden. Bewiesen wird damit die Tauglichkeit des Produkts für die reale Anwendung.
Risikomanagement
Im Risikomanagement bewerten wir nun anhand der vorliegenden Verifizierungs- und Validierungsergebnisse, ob die erwartete Reduzierung der vorhergehenden Gefährdung über das Design wirklich im erwarteten Maß eingetreten ist. Damit kann die Effektivität der Maßnahmen bewiesen werden. Das Risikomanagement dient hier auch zur Ableitung bzw. Festlegung der Testanforderungen und der Testtiefe, Stichprobengröße etc. Muss eine klinische Studie durchgeführt werden, hilft auch hier das Risikomanagement bei der Festlegung des Studiendesigns, der Studienanforderungen, der Probandenauswahl und der Probandenzahl.
Verifizierung
In der Regel erfolgt die Verifizierung der Gebrauchstauglichkeit schon im Entwicklungsprozess. Untersucht wird die Übereinstimmung der Benutzer-Gerät-Schnittstelle mit den Anforderungen der Anwender. Methoden zur Verifizierung können Inspektionen der Benutzer-Gerät-Schnittstelle und Beobachtung von Benutzern in vorhersehbaren Nutzungsszenarien sein.
Validierung
Die Validierung der Gebrauchstauglichkeit stellt die Einhaltung der Zweckbestimmung sicher, also, dass das richtige Produkt gebaut wird. Eine Validierung kann nur „summativ” erfolgen, also erst dann, wenn das Gerät zumindest als produktionsidentischer Prototyp in seiner Gesamtheit vorliegt und getestet werden kann.
Die in den Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen (Anhang I der EU-Medizinprodukteverordnung) enthaltenen Punkte zu präklinischen und klinischen Daten müssen nun für das Produkt nachgewiesen werden. Durch wissenschaftliche Literatur und eigene Prüfdaten soll in der klinischen Bewertung ein Beleg zu Sicherheit und Leistungsfähigkeit des Produkts zu treffen sein. Eventuell noch offene Punkte des Anhangs I MDR geben Inhalte für eine vorgesehene klinische Prüfung vor. Spätestens ab diesem Zeitpunkt sind Prüfzentrum und klinische Monitore in das Projekt involviert, die den Verlauf der Studie überwachen und dokumentieren.

10 Dokumentation

Der legale Hersteller muss eine Produktdokumentation (s. Kap. 10000) vorhalten, die das begründete Design-Ergebnis und die Fertigung beschreibt. Dies alles sind Ergebnisse des oben beschriebenen Entwicklungsprozesses. Daher wird die Dokumentation parallel erstellt und spätestens nach Abschluss der Validierungstätigkeiten und deren Berichten auf Vollständigkeit geprüft bzw. noch Ausstehendes ergänzt.
Die Risikomanagement-Akte wird auf Vollständigkeit geprüft, die Risikomanagementzusammenfassung mitsamt der Nutzen-Risiko-AbwÌgung für das Gesamtprojekt kann nun erstellt werden und das Risikomanagementstatement des Managements kann vorbereitet werden.
Das Usability-Engineering-File mit allen Aufzeichnungen aus dem Entwicklungsprozess und den Ergebnissen aus Verifizierung und Validierung wird fertiggestellt.
Ein Abschlussbericht der klinischen Prüfung (so nötig) wird erstellt, der Bericht zur klinischen Bewertung wird fertiggestellt und die Safety and Effectiveness Evaluation (benötigt für FDA) wird zusammengestellt.
Dieser einmalige Aufwand darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass einige Dokumente (zumindest Risikomanagement-Akte und Klinische Bewertung) regelmäßig wieder angepackt werden müssen, um die aktuellen Erkenntnisse aus dem Markt einzuarbeiten und erneut zu bewerten (s. Kap. 13000).

11 Konformitätsbewertung

Beispiel
Eigentlich ist jetzt alles erledigt. Der Vertrieb wartet ungeduldig auf die fertigen Produkte, das Marketing hat das neue Produkt schon angekündigt und die Ingenieure mögen es nicht mehr sehen. Dennoch fehlt noch ein wesentlicher Schritt für das Notfall-Mobiltelefon: die Konformitätserklärung im Rahmen der Konformitätsbewertung.
Die Erfüllung der Produktanforderungen ist bewiesen. Nun muss die Organisation zeigen, was sie kann. Je nach Produktklasse muss ein Qualitätsmanagementsystem und ein Konformitätsbewertungsverfahren (s. Kap. 11000) vorgewiesen werden. Ist das alles erledigt und die Behörde als auch Benannte Stelle informiert, kann die Konformitätserklärung von der verantwortlichen Person auf der Basis des Risikomanagements und der Klinischen Bewertung freigegeben werden.
Review
Das Management bzw. die verantwortliche Person (Artikel 15 MDR) führt ein Review des Risikomanagements durch, bevor das Risikomanagementstatement von ihnen freigegeben wird.
Auch das Usability-File wird vom Management bzw. von der verantwortlichen Person einem Review unterzogen, bevor die Zusammenfassung freigegeben wird.
Das Management bzw. die verantwortliche Person wird jetzt ein Review der klinischen Bewertung in Zusammenhang mit der Risikomanagement-Akte und der Usability-Akte durchführen, bevor auch hier die Zusammenfassung freigegeben wird.

12 Änderungen

Beispiel
Anlässe gibt es genug, um Änderungen am Design durchzuführen; lassen Sie es nur die Abkündigung eines Bauteils oder aber unseres Kunststoffgranulats für das Gehäuse sein. Schon sind wir wieder mitten drin im Entwicklungs- bzw. Änderungsprozess (s. Kap. 12000). Einfach ändern ist nicht opportun, denn wir wissen aus dem ersten Entwicklungsverfahren schon, welche Gefahren lauern können.
Alles fängt wieder von vorne an oder zumindest auf einem sinnvollen Entwicklungsstand und wird von da an fortgesetzt. So ist es auch mit dem Risikomanagement entsprechend des obigen Modells. Oft dient das Risikomanagement schon dazu, abzuwägen, ob Änderungen überhaupt Sinn machen und welche Auswirkungen diese hätten. Daher kann es hier auch zu einer finalen Entscheidung gegen das Produkt und damit zur Einstellung des Produkts kommen.
Für die Usability und die klinische Bewertung gilt das analog zum Risikomanagement.
→ Phase 3 Produktbeobachtung und Marktherausnahme

13 Marktbeobachtung und Abkündigung

Beispiel
Aus den Augen, aus dem Sinn! Das Entwicklungsteam kümmert sich schon lange um das nächste erfolgversprechende Projekt. Das Notfalltelefon hat bislang nur unbedeutende Reklamationen gehabt. Der erste Mitbewerber hat ein neues Modell auf dem Markt, das über einen Sensor am Körper des Patienten Daten empfängt und über das Mobiltelefon an den behandelnden Arzt überträgt.
Hat es jemand mitbekommen? Da ist etwas passiert am Markt, und wir müssen uns fragen, ob unser Produkt noch zeitgemäß und sicher genug ist.
Genau deshalb ist der Hersteller gefordert, Marktbeobachtung für seine Produkte zu betreiben (s. Kap. 13000). Die Ergebnisse dieser aktiven Beobachtung auch der Mitbewerberprodukte werden in entsprechenden Post-Production-Reviews verarbeitet, eventuell nötige Maßnahmen abgeleitet, vielleicht sogar ein Re-Design (s. Kap. 12000) begonnen oder aber das Produkt geplant aus dem Markt genommen (s. Kap. 14000).
Marktbeobachtung
Mit jeder Rückmeldung vom Markt und jeder Befragung, jedem Kontakt mit Anwendern wird der Bewertungsmaßstab des Risikomanagements objektiver. Dies bedeutet aber auch, dass der Risikomanagementbericht stetig überarbeitet, der Realität angepasst und daraus eventuell entstehender Änderungsbedarf am Produkt oder den Begleitpapieren extrahiert wird.
Abkündigung
Diese Überprüfung der Risikoeinschätzung ist auch Grundlage des Systems zur Ûberwachung nach dem Inverkehrbringen und damit der Entscheidung über Meldepflicht, Korrekturmaßnahmen im Markt, Produkteinstellungen oder sogar Produktrückrufe.
Die regelmäßige Überprüfung der Risikoeinschätzung und des gewählten Designs kann auch eine Veränderung des Anwenderverhaltens aufzeigen, die auch zu Korrekturen am Produkt bzw. dessen User-Interface führen kann.
Auch die klinische Bewertung muss laufend auf Basis der Marktbeobachtung nach aktualisiert werden.
 

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